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Spätfolgen von Traumatisierungen bei Patientinnen und Patienten mit einer Alzheimer-Demenz

Ausrichtende Institution

Institut für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Projektleitung

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse &
Prof. Dr. Eric Schmitt

Partnerinstitution

Forum Gesundheit und Medizin;
Palliative Care und Organisationsethik Zürich

Leitung

Dr. Matthias Mettner

Gefördert durch

Hans-Ruland-Stiftung

Projektzeitraum

August 2016 bis
Dezember 2022

Ziel der Studie

Es war das Ziel, die Bedeutung positiver, belastender und traumatischer Ereignisse und Erlebnisse für die Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz aufzuzeigen. Es wurden drei Teil-Untersuchungen in enger Kooperation mit stationären und ambulanten Einrichtungen der Altenhilfe durchgeführt. In der ersten Teil-Untersuchung sollte gezeigt werden, inwieweit die von demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohnern in Interviews berichteten Zäsuren (Wendepunkte) im Lebenslauf auch von den nächsten Angehörigen und von den Pflegefachpersonen in deren Blick auf die Bewohnerinnen und Bewohner berichtet würden. In der zweiten Teil-Untersuchung ging es darum, die Vielfalt der biografischen Themen – verstanden als „Inseln des Selbst“ – im Erleben von Menschen mit Demenz zu erfassen und dabei die Frage zu beantworten, inwieweit diese Inseln des Selbst von nächsten Angehörigen und Pflegefachpersonen erkannt und in Interviews berichtet würden. In dieser Teil-Untersuchung folgten die Pflegefachpersonen in ihrer Erfassung der Inseln des Selbst einer spezifischen Form der Kommunikation, die vorher definiert worden war. In der dritten Teil-Untersuchung wurde gefragt, welche psychologischen Kategorien besonders geeignet sind, um Inseln des Selbst – und dabei Erinnerungen an hoch-belastende oder traumatische Erinnerungen – zu erfassen. Diese Kategorien sollten zum einen die innere Haltung von Pflegefachpersonen bei der Erfassung von Inseln des Selbst widerspiegeln, zum anderen spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Gesprächsführung. Zudem
wurde das Kategoriensystem in Kooperation mit Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Pflege konsentiert.

Stichproben

  • An Teil-Untersuchung I nahmen acht stationäre Einrichtungen der Altenpflege teil; aus diesen acht Einrichtungen wurden insgesamt 16 Pflegefachpersonen als Kooperationspartner/innen für das Projekt gewonnen. 16 Bewohnerinnen und Bewohner sowie deren nächste Angehörige nahmen an dem Projekt teil.
  • In Teil-Untersuchung II wurden zwei Wohnstifte und vier Pflegeheime für die Mitwirkung am Projekt gewonnen. 35 Bewohnerinnen und Bewohner sowie deren nächste Angehörige waren in der Untersuchung vertreten; hinzu kamen 15 Pflegefachpersonen.
  • Für Teil-Untersuchung III konnten in einem ersten Schritt 30 Pflegefachpersonen aus 30 ambulanten Einrichtungen gewonnen werden; in einem zweiten Schritt – Konsentierung – wurden wir von 20 Pflegefachpersonen unterstützt.

Ergebnisse

In der ersten Untersuchung wurde gezeigt, dass zahlreiche Zäsuren oder Wendepunkte, die von Menschen mit leichter oder mittelgradiger Demenz in Interviews spontan genannt wurden, von nächsten Angehörigen und Pflegefachpersonen bestätigt wurden, was auch als Hinweis auf die Validität und Reliabilität der in den Interviews gewonnenen Informationen gedeutet werden darf. In der zweiten Untersuchung wandten die Pflegefachpersonen Techniken der empathischen Gesprächsführung ein, um Inseln des Selbst zu erfassen; es wurde eine Vielfalt von Inseln des Selbst identifiziert, unter denen auch hoch-belastende und traumatische Erlebnisse eine bedeutende Stellung einnahmen. Weiterhin wurde gezeigt, dass sich durch diese Art der Gesprächsführung (und der dahinterstehenden Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern) sowie durch die „innere Anteilnahme“ an den Inseln des Selbst bedeutende Impulse für die eigene fachliche Identität erwuchsen. In der dritten Untersuchung wurden Pflegefachpersonen gebeten, sich die innere Situation von demenzkranken Menschen möglichst genau und differenziert ins Gedächtnis zu rufen und auf der Grundlage dieser Fallvignetten Kategorien einer „gelingenden Gesprächsführung“ zu erarbeiten. 17 Kategorien wurden erarbeitet und in einem zweiten Schritt mit weiteren 20 Fachpersonen konsentiert. Diese bestätigten die 17 Kategorien, zugleich führten sie Aspekte an, die in derartigen Gesprächen noch stärker beachtet werden sollten – wie zum Beispiel jenen des Schulderlebens.

Theoretische Fundierung der Studie

Die Konstrukte des Lebensrückblicks, der Menschenwürde, der Person, der Kommunikation, der Selbstbestimmung, des Selbst und der Selbstaktualisierung wie auch potenzielle Einflüsse posttraumatischer Belastungsstörungen bilden die Struktur der theoretischen Fundierung.

Folgerungen aus der Studie

Die drei Teil-Untersuchungen geben Einblick in psychische Prozesse bei Menschen mit Demenz; sie machen deutlich, dass (hoch-) belastende oder traumatisierende Ereignisse und Erlebnisse noch Jahrzehnte später das Erleben des Menschen phasenweise mitbestimmen oder zumindest erheblich beeinflussen können. Die drei Teil-Untersuchungen unterstreichen damit den in der Pflegeforschung und Pflegepraxis immer wieder hervorgehobenen Biografie-Ansatz, das heißt das Verständnis von Erleben, Verhalten und Handeln im hohen Alter vor dem Hintergrund der individuellen Biografie des Menschen, die immer auch als eine historisch, gesellschaftlich und kulturell gerahmte zu verstehen ist. Die in den Teil Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen weisen auf eine besondere Anforderung einer fachlich, ethisch und menschlich überzeugenden Pflege hin: Nämlich auf die Fähigkeit von Pflegefachpersonen, sich durch eine empathische und konzentrierte Zuwendung in das Erleben von Menschen mit Demenz „einschwingen“ und zugleich erfahrene Erlebensinhalte – auch biografisch – einordnen zu können; verbunden ist diese Fähigkeit mit jener der Interaktion und Kommunikation: verbal und non-verbal (mimisch und gestisch). In summa geben die Untersuchungen Hinweise auf die Identität des Pflegeberufs und auf die fachliche Identität jener Frauen und Männer, die in diesem tätig sind.

Die Tatsache, dass lange zurückliegende Ereignisse und Erlebnisse im hohen Alter wieder thematisch werden können, weist auf die Kontinuität der Persönlichkeit hin. Diese Kontinuität ist im Falle einer Demenzerkrankung erheblich unterbrochen, sie ist aber nicht notwendigerweise aufgehoben. Denn die Tatsache, dass die erlebten Zäsuren (Wendepunkte) in der Biografie auch im Falle einer bestehenden Demenzerkrankung deutlich erinnert und artikuliert werden, dass diese Zäsuren von den Angehörigen in ihrem Blick auf das demenzkranke Familienmitglied und in ihrer Narration über dieses berichtet (und das heißt ja auch: „wiedererkannt“) werden und dass Pflegefachpersonen ebenfalls einen nicht geringen Anteil dieser Zäsuren berichten (und auch dies heißt: „wiedererkennen“), spricht für die Annahme einer auch in der Demenz gegebenen biografischen Kontinuität. Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, dass es sich bei den in Untersuchung I und II angesprochenen Personen um solche mit einer leichten oder mittelgradigen, nicht mit einer schweren Demenz handelte. Doch zeigten die in Untersuchung III geführten Interviews, dass Pflegefachpersonen von der hier angesprochenen (allerdings dann deutlich aufgelockerten) Kontinuität ausgehen, wenn bei der zu begleitenden oder zu pflegenden Person eine schwere Demenz vorliegt: Dann können zumindest noch einzelne Hinweise auf biografisch bedeutsame Ereignisse und Erlebnisse gefunden werden.

Was die Untersuchungen ebenfalls gezeigt haben: Diese Kontinuität kann bei Personen mit einer eher leichten oder mittelgradigen Demenz durch die Art der Ansprache durch eine Pflegefachperson – die hier auch mit den emotional am nächsten stehenden Angehörigen in einen kontinuierlichen Austausch treten sollte – einmal mehr gefördert werden. Wenn sich eine Pflegefachperson in den Erlebensstrom des oder der Demenzkranken immer wieder einschwingt (dies jeweils über einen begrenzten Zeitraum), so kann sie damit Erinnerungsleistungen fördern. Was hier wichtig ist: Dieses „mäeutische“ Potenzial der Pflege und Begleitung darf nicht in der Hinsicht eingesetzt werden, dass hochbelastende, wenn nicht sogar traumatische Ereignisse und Erlebnisse in einem Maße thematisch werden, dass sich der oder die Demenzkranke von diesen gar nicht mehr lösen kann. Es darf ja auch nicht darum gehen, Erinnerungen um ihrer selbst willen zu wecken. Vielmehr hat die Mäeutik die Aufgabe, einen tieferen Einblick in die Biografie des Gegenübers zu nehmen und auf dessen Grundlage (a) das Erleben, Verhalten und Handeln des Gegenübers besser zu verstehen („einzuordnen“) und (b) auf dieses fachlich wie ethisch profunder antworten zu können: Mäeutik steht also im Dienste der Responsivität.

Diese Aussage: „Mäeutik steht im Dienste der Responsivität“ weist auf das große psychologische (und psychopathologische) Potenzial der Pflege hin. In den Interviews mit den Pflegefachpersonen trafen wir immer wieder auf ein Verständnis von Pflege demenzkranker (wie auch überhaupt: alter) Menschen, das in hohem Maße von einem psychologischen Zugang geprägt war. Wie drückten Pflegefachpersonen – ganz unabhängig voneinander – dieses Verständnis aus? „Pflege ist zu 75 Prozent Psychologie.“ In den drei Untersuchungen wurde diese psychologische Dimension einmal mehr „freigelegt“ und zugleich in ihren Potenzialen – aber auch in ihren Anforderungen – für und an die Pflege verdeutlicht. Dies aber ist ein hoher Anspruch, der nur vollumfänglich erfüllt werden kann, wenn Pflegefachpersonen ein mehr an Zeit für die Interaktion und Kommunikation – wie auch für die Gesprächsplanung – besitzen, wenn ihnen die Möglichkeit einer deutlich engeren Kooperation mit Nervenärzten gegeben wird (in den von uns gewonnenen Stichproben lies schon allein die ausgezeichnete, hochdifferenzierte Pflegedokumentation auf eine solche schließen) und wenn gezielt Publikationen und Handreichungen erarbeitet werden, in denen diese biografische Konzeption im Dienste der Kontinuität der Persönlichkeit und der profunden Responsivität der Pflegefachpersonen ausführlich dargelegt und begründet wird.

Publikation

Die Studie wird in Gänze im Jahre 2023 veröffentlicht werden. Als Ziel-Verlag wurde der Kohlhammer-Verlag ausgewählt.

Handreichung für die Praxis

Bedeutender Teil dieser Publikation bildet eine „Handreichung für die Praxis“; die Umsetzung der einzelnen Handlungsempfehlungen wird anhand von Fallvignetten, die der Studie entnommen sind, veranschaulicht.

Bisherige Aktivitäten

Die Konzeption der Studie wie auch erste Erfahrungen und schließlich Befunde wurden – gemeinsam mit Folgerungen für die Theorienbildung und die Praxis – auf wissenschaftlichen Kongressen und Symposien vorgestellt. Zudem wurden Inhalte der Studie in die Lehre am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg sowie in Angebote von Weiterbildungsinstitutionen integriert. Zudem bildeten die in der Studie gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse eine wichtige empirische Grundlage für zwei Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates zur Ansprache alter Menschen in Phasen der Corona-Pandemie.

Geplante Aktivitäten für 2023

Vorstellung der Studie auf dem Kongress für Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie an der Universität Münster (Eröffnungsvortag, Februar 2023), auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Hauptvortrag, Mai 2023), auf den Lindauer Psychotherapiewochen (Große Vorlesungsreihe, fünftägig, April 2023) und auf dem Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie (Abschlussvortrag, April 2023).

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